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9. November 2020

Die erste Schulstunde liegt bereits hinter den Schülern und Schülerinnen der Städtischen Gesamtschule Lippstadt. Es ist neun Uhr, normalerweise arbeiten die Kinder und Jugendlichen nun in der Lernzeit an ihren Aufgaben. Heute nicht, denn über die Lautsprecher erklingt ein Lied, gespielt auf der Trompete.
Die gesamte Schule hält inne für eine Erinnerungsveranstaltung zur Reichspogromnacht. Henning Stuckenschneider, Schüler der Q1, spielt auf seiner Trompete das Lied von Dietrich Bonhoeffer „Von guten Mächten wunderbar geborgen“.
Zuvor wurde ein Text verlesen, den einige Geschichtslehrkräfte gemeinsam verfasst haben. Hierin wird nicht nur auf die Ereignisse vor 82 Jahren eingegangen, sondern auch der Bogen geschlagen zu aktuelleren rassistischen und fremdenfeindlichen Taten. Verständlich für SchülerInnen der Klasse 5 bis 13 werden Zusammenhänge aufgezeigt: Für die Erinnerung, gegen das Vergessen. Und, um daraus zu lernen, dass Zerstörung, Tod, Trauer und Wut nicht auch noch unsere Träume, unsere Leben und unsere Zukunft zerstören. Nach dem Text- und Liedvortrag besprechen die Lerngruppen das Gehörte und gehen auf mögliche Fragen ein.
Zumal die jährliche Gedenkveranstaltung im Rathaussaal coronabedingt nicht stattfinden kann, positioniert sich die GSL-Gemeinde auf diese Weise gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit. Unsere Schule mit dem Siegel „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“ steht ein für Offenheit und Toleranz.

Ansprache zur Reichspogromnacht an der Gesamtschule Lippstadt am 9. November 2020

Ansprache zur Reichspogromnacht an der Gesamtschule Lippstadt

am 9. November 2020

      Heute vor 82 Jahren war die sogenannte Reichspogromnacht. Lichterlohe Brände in jedem jüdischen Geschäft, heiße und meterhohe Flammen, die in allen Synagogen brennen. Daneben Leute der SA, der Kampfgruppe Hitlers, mit einem schäbigen Grinsen. Die angrenzenden Häuser wurden unter Wasser gehalten, damit sie auf keinen Fall mit zerstört werden. Aber die Synagogen selbst hat man brennen lassen. So beschreibt ein damals noch kleiner jüdischer Junge seinen Schulweg am Morgen des 10. Novembers 1938. Auch in Lippstadt haben Kinder und Jugendliche Eures Alters die Synagoge in der David Gans Straße 7, gegenüber der Stiftsruine, auf ihrem Weg zur Schule, am Morgen des 10. Novembers 1938, lichterloh brennen sehen. Die Folgen waren Zerstörung, Tod, Trauer und Wut. Der Grund war Hass gegen die Juden.  
Am 7. Januar 2015 stürmen zwei Männer, die sich zum Islamischen Staat, der auf keinen Fall gleichzusetzen ist mit allen Gläubigen des Islam, bekannten, die Redaktion der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ in Paris. Sie töten 11 Personen und verletzen viele Weitere. Die Folgen waren Zerstörung, Tod, Trauer und Wut. Der Grund war Hass gegen westliche Gesellschaften.   
Zwischen 2000 und 2007 hat der NSU, der Nationalsozialistische Untergrund, in Deutschland zehn Menschen auf grausame Weise getötet. Die Folgen waren Zerstörung, Tod, Trauer und Wut. Der Grund war Hass gegen ausländische Menschen.  
Am Freitag, den 13. November 2015, gehen Menschen in Paris ins Stadion, um ein Fußballspiel zu sehen, Andere besuchen ein Konzert einer Rockband und wieder Andere möchten einfach mit Freunden in einem Café sitzen. Plötzlich kommt es zeitgleich zu einer Serie von Angriffen durch Selbmordattentäter mit Schusswaffen und Sprengstoffwesten, Männer, die sich zum Islamischen Staat bekannten. An diesem Abend sterben 130 Menschen, 683 werden verletzt. Die Folgen waren Zerstörung, Tod, Trauer und Wut. Der Grund war Hass gegen westliche Gesellschaften.  
Am 27. Oktober 2018 wird in einer Synagoge in Pittsburgh, einer Stadt in den USA, ein Gottesdienst zur Namensgebung, so etwas wie eine Taufe, für ein Baby gefeiert. Ein Mann stürmt das Gotteshaus, erschießt 11 Menschen und verletzt Andere schwer. Die Folgen waren Zerstörung, Tod, Trauer und Wut. Der Grund war Hass gegen die Juden.   Am 9. Oktober 2019 feiern die jüdischen Menschen der Stadt Halle in Sachsen-Anhalt Jom Kippur in ihrer Synagoge, das ist der höchste jüdische Feiertag, ähnlich wie Weihnachten bei den Christen. Plötzlich versucht ein junger Mann hineinzukommen, um diese Menschen zu erschießen. Als es ihm nicht gelingt, erschießt er eine junge Frau und einen jungen Mann, die gerade auf der Straße vorbeikommen. Die Folgen waren Zerstörung, Tod, Trauer und Wut. Der Grund war Hass gegen die Juden.  
Erst vor wenigen Wochen kam in den Nachrichten, dass ein Geschichtslehrer in Frankreich auf offener Straße enthauptet wurde. Weil er seinen Schülern im Rahmen seines Unterrichts zum Thema Meinungsfreiheit die Mohammed-Karikaturen des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ gezeigt hatte. Die Folgen waren Zerstörung, Tod, Trauer und Wut. Der Grund war Hass gegen westliche Gesellschaften.  
Vor genau einer Woche, am Montag, dem 2. November, treffen sich Menschen ein letztes Mal in Bars und Restaurants in der Wiener Innenstadt bevor es zum vierwöchigen Lockdown wegen des Coronavirus kommt. Einmal noch, sagen sie sich, bevor die Lokale um Mitternacht geschlossen werden. Doch dann kommt es zu Schüssen, Panik und stundenlanger Ungewissheit, sogar die Schulen bleiben aus Angst vor weiteren Angriffen am nächsten Tag geschlossen. Laut Augenzeugen hatten Angreifer zunächst vor der Synagoge im Zentrum Wiens aus automatischen Waffen das Feuer eröffnet. Auch an anderen Orten sollen Bewaffnete das Feuer eröffnet haben. Insgesamt kam es an sechs Orten zu Schießereien durch islamistische Terroristen. Die Folgen waren Zerstörung, Tod, Trauer und Wut. Der Grund war Hass gegen westliche Gesellschaften.  
Heute vor 82 Jahren haben Wut und Hass ein Feuer in Lippstadt gelegt, dass die Deportation der Lippstädter Juden und ihren Tod zur Folge hatte. Wut und Hass haben in den letzten 82 Jahren immer wieder verletzt und getötet, haben das Leben von einzelnen Menschen, von Kindern auf dem Weg zur Schule, von Familien, Söhnen, Töchtern, Frauen, Männern, Brüdern und Schwestern und Eltern bestimmt, ihre Träume zerstört und ihre Leben auf grausame Weise genommen. Lasst uns heute daran erinnern während wir das Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ hören. Geschrieben von Dietrich Bonhoeffer, der 1945 im Konzentrationslager hingerichtet wurde, weil er sich am Widerstand gegen die Nationalsozialisten beteiligt hat. Lasst uns erinnern. Lasst uns nicht vergessen. Und lasst uns daraus lernen, dass Zerstörung, Tod, Trauer und Wut nicht auch noch unsere Träume, unsere Leben und unsere Zukunft zerstören.